Videographie von Praktiken der beziehungsarbeit an weiterführenden Schulen

Forschungsziel

Forschungsziel des Projekts VideoRelation ist die Rekonstruktion und anschließende Figuration von Praktiken der Care- und Beziehungsarbeit bzw. der Beziehungsgestaltung an weiterführenden Schulen. Erhoben werden diese Praktiken u. a. durch fokussierte Videographie. Im fachspezifischen und internationalen Vergleich werden spezifische Figurationen der Beziehungspraxis herausarbeitet. Auf diese Weise können Transformationsprozesse von Beziehungsgefügen innerhalb einer immer stärker durch digitale Medien bestimmten Welt empirisch und theoretisch bestimmt werden. Die vergleichende Perspektive verschafft darüber hinaus die Möglichkeit, Scheiterns- und Gelingensbedingungen für schulische Beziehungsarbeit zu beschreiben. Das entstandene Videomaterial wird zudem in der Lehramtsausbildung eingesetzt, um das Thema Lehrer-Schüler-Beziehungen der Reflexion zugänglich zu machen und wieder stärker in den Praxisdiskurs zu bringen.

Ausgangslage

2020 dominiert das Thema Digitalisierung die öffentlichen Diskurse um Bildungsangebote. An Schulen ergeht der öffentliche Auftrag, sich auf diesem Gebiet nicht länger als "Entwicklungsland", sondern als medienkompetente Player und Vermittlerinnen zukunftsrelevanter medienbezogener Kompetenzen zu zeigen. Die Aufforderung ist per se nicht neu, doch entpuppen sich die pandemiebedingten Schulschließungen mehr und mehr als Motor für Schul- und Unterrichtsentwicklungsprozesse, mit der Folge, dass Schulen dieser Aufforderung nun auch verstärkt nachkommen. Während eine breite Öffentlichkeit diesen digitalen Wandel als längst überfälligen begrüßt, wird die Aufforderung und deren Umsetzung v. a. aus sozialwissenschaftlicher Perspektive eher kritisch als Ausdruck einer sich seit der Jahrtausendwende durchsetzenden Ökonomisierung schulischer Bildung mit einer Fokussierung auf (Selbst-)Optimierung (u.a.) rund um den Diskurs der Individualisierung (u.a.) gelesen.

 

Jedoch lässt sich nicht nur die Schulpraixs, sondern auch in der Forschung eine Fokussierung auf Digitalisierung im Sinne einer Untersuchung von Mensch-Maschine-Interaktionen auf unterschiedliche Ebenen (didaktisch, erzieherisch uvm.) und Technologien erkennen. Dies verengt aber den Blick auf Schulgeschehen: Beziehungs- oder Fürsorgearbeit (hier verstanden als Sich-Kümmern um Kinder und Jugendliche), die auch Teil schulischer Praxis ist, wird vor allem im Sekundarschulwesen sowohl bei den Professionellen selbst, als auch in der Forschung (nicht nur im Bereich der Medien- und Schulpädagogik) häufig an den Rand des Wahrnehmungsfeldes gerückt.

 

Gleichzeitig scheint es aber einen Bedarf zu geben, diese Komponente - trotz oder gerade wegen den die Gesellschaft durchdringenden Narrative der Digitalisierung - nicht aus dem Blick zu verlieren: Alternative Schulformen, die im Rahmen ihrer pädagogischen Konzepte die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen in den Mittelpunkt stellen, haben Hochkonjunktur. Salutogenetische Konzepte werden in Form von speziellen Fächern an Schulen eingeführt oder als kleinere Lerneinheiten in bestehende Fächerkulturen, die sich aus Sicht der Akteur*innen "besonders dazu eignen", oder in andere schulische oder schulnahe Angebote integriert. Das System reagiert damit auf eine z.T. auch empirisch nachgewiesene abnehmende Schulzufriedenheit (vgl. OECD 2019), die in engem Zusammenhang mit der körperlichen und seelischen Gesundheit der Schüler*innen steht (vgl z.B. Rathmann u.a. 2018) und ein erhöhtes Stressempfinden aller schulischer Akteur*innen (vgl. Seiffge-Kränke 2008).

Forschungsfrage

Wie zeigen sich nun aber Praktiken von Fürsorge- und/oder Beziehungsarbeit und deren Figurationen im schulischen Alltag von Sekundarschulen? Zeigen sich Unterschiede je nach Schulstufe, Unterrichtsfach und auch nachdem, wie erfahren die jeweilige Schule mit salutogenetischen Konzepten ist? Auf diese Fragen gibt es bisher keine Antworten, denn die Fürsorgepraxis und Beziehungsarbeit von Lehrer*innen wurde bisher kaum untersucht. Im deutschsprachigen Raum gibt es nur einzelne Studien an Grundschulen (vgl. Althans u.a. 2016), während weiterführende Schulen kaum in den Blick genommen werden. Dies möchte das Projekt VideoRelation ändern und der These nachgehen, dass die Thematisierung von Achtsamkeit, psychischer und körperlicher Gesundheit und Zufriedenheit auch die Beziehungsgestaltung zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen verändert und dass Beziehungsgestaltung an weiterführenden Schulen einen fachdisziplinären Kontext hat.

Forschungsfeld

Schulfächer und schulnahe Angebote, die explizit Achtsamkeit und Beziehungsarbeit thematisieren, haben an Schulen im angelsächsischen Sprachraum eine längere Tradition als in Deutschland (vgl. z. B. Durlack u.a. 2016). Ein Blick auf diese Angebote lohnt sich insofern, dass mögliche Schulentwicklungspotenziale beschrieben und analysiert, sowie durch den interkulturellen Vergleich an einem bestimmten Fach potenziell konstrastrierende Praktiken und (schul-)kulturelle Unterschiede herausgearbeitet werden können. Das Projekt VideoRelation untersucht daher Praktiken der Beziehungsgestaltung im Unterricht an weiterführenden Schulen in Deutschland und in Großbritannien (weitere Länderstudien sind in der Planung), an denen u.a. das Fach "Glück/Awareness/Psychoeducation/Social and Emotional Learning/Well-being" unterrichtet wird.

Forschungsinstrumente: Theorie und Methodologie

Das Projekt schließt an Theorien an, im Rahmen derer Care-Praktiken und eine Ethik der Achtsamkeit als feminisierte Alltagspraktiken beschrieben werden (Althans u.a. 2016; Toppe 2010, Rendtorff 2006; Gilligan 1982). Zudem soll eine professionstheoretische Perspektive einbezogen werden, die Lehrer*innen als Beziehungsarbeiter*innen versteht (Miller 2011; Ziehe 1996). Im Zentrum der theoretischen Auseinandersetzungen mit Praktiken der Fürsorge- und Beziehungsabreit stehen jedoch die theoretischen Überlegungen von Idel, Reh, Rabenstein u.a. (z.B. Reh u.a.), die Praktiken als Ausdruck einer spezifischen Lernkultur beschreiben.

 

Die Praktiken der Beziehungsarbeit werden mittels fokussierter Videographie erhoben (s. Carvalho 2017). Diese ethnographisch angelegten Beobachtungen (s.a. Mohm 2008) werden durch Interviews mit Schulleitungen und Lehrpersonen ergänzt, um auch die diskursiven Praktiken im Feld analysieren zu können.

Literatur

  • Althans, Birgit/ Blasse, Nina/ Budde, Jürgen/ Huf, Christian/ Raggl, Andrea/ Schütz, Anna (2016): Care in der Grundschule - ein Forschungsdesiderat? In: Liebers, K./Landwehr, B./Reinhold, S./Riegler, S./Schmidt, R. (Hrsg.): Facetten grundschulpädagogischer und didaktischer Forschung. Springer VS, Wiesbaden, 45-60
  • Müller, Reinhold (2011): Beziehungsdidaktik. Beltz, Weinheim/Basel.
  • Mohn, Bina Elisabeth (2008): Die Kunst des dichten Zeigens. Aus der Praxis kamera-ethnographischer Blickentwürfe. In: Binder, B./Neuland-Kitzerow, D./Noack, K. (Hrsg.): Kunst und Ethnographie: Zum Verhältnis von visueller Kultur und ethnographischem Arbeiten. Berliner Blätter 46/2008, LIT Verlag, 61-72
  • Neto Carvalho, Isabel (2017): Gymnasium und Ganztagsschule. Videographische Fallstudie zur Konstitution pädagogischer Ordnung. Springer VS, Wiesbaden.
  • Durlack, J. A./Domitrovich, C. E./Weissberg, R. P./Gullotta, T. P. (2016) (Hrsg.): Handbook of Social and Emotional Learning Research and Practice. Guilford Press. New York.
  • Gilligan, Carol (1982): In a different voice. Cambridge. Harvard University Press.
  • OECD (2019), PISA 2018 Results (Volume III): What School Life Means for Students' Lives, PISA, OECD Publishing, Paris.
  • Rathmann, Karina/Herke, Max/Hurrelmann, Klaus/Richter, Matthias (2018): Klassenklima, schulisches Wohlbefinden und Gesundheit von Schülerinnen und Schülern in Deutschland. Ergebnisse des Nationalen Bildungspanels (NEPS). Das Gesundheitswesen 2018, 332-341
  • Rendtorff, Barbara (2012): Geschlechtsspezifsche Aspekte von Nähe und Distanz - zur Sexuierung der Professionalisierungsdebatte. In: Dörr, M./Müller, B. (Hrsg.): Nähe und Distanz. Ein Spannungsfeld pädagogischer Professionalität. 3. aktualisierte Auflage. Beltz Juventa, Weinheim, 90-100
  • Reh, S./Fritzsche, B./Idel, T.-S./Rabenstein, K. (Hrsg.) (2015): Lernkulturen. Rekonstruktion pädagogischer Praktiken an Ganztagsschulen. Springer VS, Wiesbaden.
  • Seiffge-Krenke, Inge (2008): Schulstress in Deutschland: Ursachen, Häufigkeiten und internationale Verortung. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychatrie 57 (2008) 1, 3-19
  • Toppe, Sabine (2010): Care-Ethik und Bildung - eine neue "Ordnung der Sorge" im Rahmen von Ganztagsbildung? In: Moser, V./Pinhard, I. (Hrsg.): Care - Wer sorgt für wen? Verlag Barbara Budrich, Opladen u.a., 69-86
  • Ziehe, Thomas (1996): Zeitvergleiche. Jugend in kulutrellen Modernisierungen. 2. Aufl. Juventa, Weinheim/München.

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